Was nicht in die Masse dringt, ist unwirksam.
Karl Jaspers (†)
Psychiater und Philosoph
Thema
·
November 19, 2019

Was Bücherlesen und Netflix gemeinsam haben

Vergleicht man die Zahlen der Buchverkäufe mit denen der verbrachten Zeit im Internet, wird ein gegenläufiger Trend deutlich sichtbar. Während in allen Altersgruppen immer weniger Bücher gekauft respektive gelesen werden, steigen die Minuten der Internetnutzung altersübergreifend an – im Durchschnitt werden heute täglich 21 Minuten mehr im Internet verbracht. Zeit, die fehlt, um beispielsweise ein Buch zu lesen. Soziale Medien, Videoplattformen und Streaming-Dienste machen dem Buch seinen Platz im Alltag streitig. Selbst in Situationen, in denen früher selbstverständlich auf Bücher zurückgegriffen wurde wie zum Zeitvertreib in Bus und Bahn oder im Wartezimmer einer Arztpraxis, sind heute vermehrt Smartphones und digitale Geräte anzutreffen. Da die Zeit von der Mehrheit der Menschen heute also zunehmend knapp wahrgenommen wird, muss man sich für das eine oder andere entscheiden. Einleuchtend, dass Netflix und Co. häufig gewinnen, obwohl sie eigentlich ähnliche Bedürfnisse beim Nutzer befriedigen, wie das Lesen eines Buches.

Eine Frau, gelbe Jacke und Jeans und ein Mann, kariertes Hemd und Jeans sitzen auf dem Boden und schauen auf einen Laptop, der vor ihnen steht. Die Frau zeigt mit dem Finger auf den Laptop.

Abgesehen vom grundlegenden beiderseitigen Vorteil - der Wissensvermittlung auf interessante und besondere Art - übernehmen Serien zunehmend das Bedürfnis des Auslebens sozial-kommunikativer Prozesse. So werden Serien häufig mit dem Partner oder in Gruppen geschaut, was nicht nur die gemeinsame Zeit verlängert, sondern auch einen Austausch über die Inhalte ermöglicht. Diese Art der Sozialisierung mit anderen wurde durchaus auch beim Bücherlesen zelebriert, etwa wenn man sich mit Bekannten und Freunden über die Geschichte austauschte, Bücher empfahl oder Buchclubs ganze Werke gemeinsam lasen und besprachen. Auch der Auswahlprozess in der Buchhandlung ist ein Akt sozialer Interaktion mit sich selbst, anderen Kunden und dem Buchhändler. Diese analoge Art des Vorschlagssystems findet bei Netflix automatisiert nach Logarithmen statt, was durchaus Erfolg versprechend ist und das Belohnungssystem des Menschen anspricht. Das Angebot scheint unendlich, sowohl im Buchladen als auch auf Netflix und anderen Diensten. Den Vorteil der Mitnahme einmal gekaufter Bücher an jeden beliebigen Ort nutzen auch Streaminganbieter. Durch Download-Optionen ist nicht einmal eine stabile Internetverbindung notwendig, um Serien und Filme überall und ständig verfügbar zu machen. Durch die selbstverständliche Mitnahme des Smartphones als täglicher Begleiter, rückt das Buch in den Hintergrund. Denn dieses muss aktiv eingepackt werden. Und so ließe sich die Liste wahrscheinlich unendlich verlängern in Bezug auf die Bedürfnisbefriedigung durch Serien statt Büchern.

Eine Aufnahme von oben. Eine Person liegt auf dem Rasen und liest ein Buch. Ein Hund liegt links daneben auf dem Rücken. Die Person trägt einen großen blau-weißen Hut.

Trotzdem hat Bücher Lesen viele weitere Vorteile: Es minimiert die Reizüberflutung durch die Konzentration auf den Moment, einen Sinneskanal und eine Informationsquelle. Zudem kann man eigenen Interessen nachgehen und muss sich nicht mit Partner und Gruppe auf einen gemeinsamen Titel einigen. Ein Thema, das bei der Nutzung von Streaming-Diensten durchaus zu Streitigkeiten führen kann. Das Lesen von Büchern wird von Menschen nach wie vor als Form der Achtsamkeit wahrgenommen, als ein Abtauchen in eine andere Welt, Entspannung und Erweiterung des Horizonts. Dass aber auch Buchleser durchaus dem neudeutschen “bingen” (engl. “Binge-Watching”: mehrere Folgen hintereinander schauen bis unter Umständen ein komaähnlicher Zustand erreicht ist, sogenanntes Komaglotzen) verfallen, ist kein neues Phänomen. Denn nichts ist so fesselnd, wie ein spannendes Buch, welches man nur schwer aus der Hand legen kann!

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